Die dritte Stunde in der Offenbacher Theodor-Heuss Berufsschule hat angefangen, die Klasse schaut ein Video. Ein Bild wie aus dem Wimmelbuch: Eine der Elftklässlerinnen hat sich auf den Tisch gefläzt, zwei Schüler schauen auf ihr Handy, eine macht Hausaufgaben für ein anders Fach.
Ein paar Fleißige schreiben mit, Energy Drinks vor sich. Die Luft ist so schwer wie die Gliedmaßen zu dieser Uhrzeit: eine Mischung aus zu wenig Sauerstoff, Parfüm und Schweiß.
Vorne im Raum stehen zwei Lehrer. Der eine ist Yunus Demir, kahl mit Vollbart, freundlicher, analytischer Blick. Gerne mal ein sarkastischer Kommentar. Die Schule wurde auf Demir aufmerksam, weil er 2016, als er sich an der Schule bewarb, in seinen Lebenslauf unter anderem geschrieben hatte, dass er ehrenamtlich in einer Moschee arbeite.
Der andere heißt Julian Warren, sanfte Stimme, er wirkt tiefenentspannt und startet seinen Unterricht mit einer Atemübung, bei der sich alle vorstellen sollen, sie seien Bäume. Beide sind 35 Jahre alt.
Demir und Warren sind Teil eines Projekt, das den Religions- und Ethikunterricht neu denkt und umsetzt. Schülerinnen und Schüler wählen im gymnasialen Zweig nicht wie sonst zwischen Religion und Ethik, sondern lernen gemeinsam im „konfessionell dialogischen Unterricht“.
Konfessionell, weil alle eigene Ansprechpartner haben; Warren für Ethik, eine Kollegin und ein Kollege für evangelische und katholische Religion, Demir für die muslimischen Jugendlichen. Dialogisch, weil der Dialog im Vordergrund stehen soll – im Gegensatz zur Diskussion, bei der es darum geht, die eigene Meinung zu verteidigen.
Schülerinnen und Schüler der elften Klasse beim Besuch der Abu Bakr Moschee in Frankfurt. Der Kronleuchter an der Decke ist einem Weihnachtsbaum nachempfunden.
Die Regeln
In dem Video, das die Klasse schaut, tritt Sina Trinkwalder auf, eine Sozialunternehmerin. Sie beschreibt, wie sie nach einer Begegnung mit Obdachlosen ihre Arbeit als Werberin aufgibt und sich überlegt, wie sie Jobs für Menschen am Rande der Gesellschaft schaffen kann. Zum Vergleich soll die Klasse einen Text von Papst Franziskus lesen aus dessen erstem Apostolischem Schreiben, Titel: „Diese Wirtschaft tötet“.
Im Unterricht gelten zwei Grundregeln. Nummer 1: der Unterricht ist ein Safe Space, sexistische oder rassistische Kommentare werde nicht geduldet. Nummer 2: Es werden keine Rankings unter den Religionen erstellt. „Ohne die Regeln könnten wir den Unterricht so nicht machen“, sagt Myriam Bär, 36, evangelische Religionslehrerin.
Sie arbeitete zuvor an einer deutschen Schule in Ägyptens Hauptstadt Kairo. Schon dort hat sie christliche und muslimische Jugendliche zusammen unterrichtet. „Mir ist wichtig, dass die Schüler Lust am Unterricht haben“, sagt sie. „Und dann ist mir ehrlich gesagt völlig egal, was irgendwo steht, welcher Religion sie angehören.“
Burkhard Rosskothen, 60, vertritt mit den Katholik:innen eine weitere Minderheit. Die Haare zum Zopf gebunden, der Bart schon etwas grauer. Rosskothen ist am längsten im Team, er hat die Unterrichtseinheiten viele Male durchgekaut, mit dem Team überarbeitet und auf einer Website dokumentiert.
Trotzdem strahlt er aus, dass er sich immer wieder neu begeistern kann für den Unterricht. Neben dem Lehrerberuf ist er auch Fotograf und Filmemacher. Er betreibt eine Website, auf der es auch um den dialogischen Unterricht geht, Titel: „Love and Peace Industries .“
Der Unterricht
Nächste Unterrichtsstunde, eine Woche später. Rosskothen geht mit 19 Jugendlichen in den „Teppichraum“ im Untergeschoss der Schule. Sie stellen sich im Kreis auf, in den Ecken liegen bunte Kissen.
„Was hat Sina Trinkwalder gesagt, was sagt der Papst?“, fragt Rosskothen. Reihum teilen sie ihre Gedanken, legen Zettel mit Stichworten auf den Boden: Kehrtwende, Mitleid, Chancengleichheit.
Plötzlich sind lauter Hände oben; ein paar Jungs fällt es schwer, zu warten, bis sie an der Reihe sind. Mounir*, Zahnspange, Locken, erster Bart, tigert im Raum herum, in seiner Hand ein Tablet mit markierten Textpassagen.
„Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit, nach den Gesetzen des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht“, zitiert er den Papst, etwas lauter als nötig.
Die Klasse arbeitet heraus, dass die Unternehmerin und der Papst zum selben Ergebnis kommen - Teilhabe ist der Schlüssel für eine bessere Gesellschaft.
„Was gibt euch Orientierung bei moralischen Fragen?", fragt der Lehrer. „Der Glaube“, sagt eine Schülerin. „Ich verlass mich auf mein Gefühl“, sagt Dennis, 17, der jetzt die Aufmerksamkeit der anderen hat.
Er steht aufrecht in ihrer Mitte. Religiös sei er nicht, sagt er, er vertraue seiner Intuition. Es liege ihm einfach nicht, anderen zu schaden oder sie zu verletzen, sagt er.
Einige schauen jetzt skeptisch. „Aber was, wenn dein Gefühl dich dazu bringen würde, etwas Schlechtes zu tun?“, fragt eine Schülerin. Rosskothen stellt die Gegenfrage: „Glaubt ihr wirklich, dass religiöse Menschen besser sind?“ Die Stimmung ist nachdenklich, am Ende der Stunde applaudieren die Jugendlichen.
Andere Meinungen auch mal stehenlassen – die Schüler:innen lernen das Woche für Woche im Unterricht. Formal bleiben sie im Klassenverband, zum Beispiel in der Klasse mit Schwerpunkt Wirtschaft, aber immer wieder gibt es stufenübergreifende Treffen, Gruppenarbeit und Vorträge.
Die Schülerinnen und Schüler, fast schon ein Weltkongress der Religionen. Rosskothen zählt auf: Die Mehrheit in der Stufe ist muslimisch, davon sind die meisten sunnitisch. Ein paar gehören der Ahmadiyya-Gemeinschaft an.
Dann die Nicht-Religiösen, Christlich-Orthodoxe, Angehörige afrikanischer Freikirchen, einige Katholische und Evangelische sind auch dabei. In manchen Jahren auch Buddhist:innen, und pro Jahrgang etwa ein jüdischer Schüler oder eine Schülerin.
Aktuell seien keine bekannt, was nicht heiße, dass es keine gebe. In einer Zeit, in der „du Jude“ als Schimpfwort gebraucht wird, kann es Mut erfordern, sich zu zeigen.
*Name geändert
So fing alles an
Im Jahr 2006 startete die Schule den dialogischen Unterricht. Etwa zwei von drei Schüler:innen hatten da schon Migrationshintergrund; wer nicht christlich war, landete meist im Ethikunterricht.
Das Konzept entwickelte ein Team um die frühere evangelische Pfarrerin und Religionslehrerin Carolin Simon-Winter und Stephan Pruchniewicz, inzwischen Professor für Religionspädagogik an der Uni Gießen. Rosskothen kam 2011 dazu.
Anfangs musste die Schule immer wieder bangen, ob das Projekt „Verschiedenheit achten – Gemeinschaft stärken“ verlängert wird. Bei den Kirchen habe es teils Vorbehalte gegeben, teils hätten diese das Projekt anfangs ignoriert.
Im Jahr 2016 trafen sich im Offenbacher Stadtschulamt Vertreter:innen der Schule, ein Jurist des Kultusministeriums und Repräsentant:innen der evangelischen und der katholischen Kirche. Ergebnis ist ein Dokument, das den Unterricht beschreibt.
„Es gab vom Ministerium nie die offizielle Bestätigung: Ihr dürft das so machen“, sagt Rosskothen. „Aber alle können offenbar damit leben“ – schließlich orientiere sich das Team am Lehrplan, auch wenn die Umsetzung ungewohnt ist.
Zwölf Unterrichtsmodule geben den Takt vor, das Curriculum ist online abrufbar. Modul 1: „Vielfalt bewusst erleben“. Dann die Themen Integration, biographisches Lernen, Toleranz. Die Jugendlichen lesen Texte aus den Heiligen Schriften, und sie beschäftigen sich mit Al-Andalus, dem vom 8. bis zum 15. Jahrhundert muslimisch beherrschten Gebiet, heute Spanien und Portugal.
Am Beispiel Abrahams erkunden sie die Basis der monotheistischen Religionen und die Unterschiede. Was zum nächsten Thema führt: Exklusivismus und die Frage, ob die eigene Religion die einzig heilbringende ist. Und wenn ja, für wen.
Am Ende des Schuljahres stehen der Besuch einer Kirche, einer Moschee und des Offenbacher Freiwilligenzentrums an.
In der letzten Stunde setzen sich alle an eine lange Tafel, sprechen über das Jahr und schreiben Erinnerungen auf das Tischtuch. Mit der 11. Klasse endet auch das dialogische Projekt.
Andere machen es nach
In vielen Städten gibt es heute eine ähnlich zusammengesetzte Schülerschaft wie in Offenbach. Während die Mitgliedszahlen der katholischen und evangelischen Kirchen stetig sinken, steigt die Zahl der Zugewanderten, die ihre eigenen Kulturen, Werte und Religionen mitbringen.
Wenn dann in manchen Religionsstunden nur noch eine Handvoll Jugendliche sitzen, muss sich eine Schule fragen, wie lange das so weitergehen kann.
Bei einer katholischen Schultagung im bayrischen Donauwörth, sagt Rosskothen, habe er viel Ratlosigkeit erlebt. „Irgendwann hat uns die Zeit eingeholt und es wurde als hilfreich angesehen, dass man so arbeitet wie wir“, sagt er. „Je größer die Probleme an anderen Schulen, umso mehr werden sie auf uns aufmerksam.“
Die Fachszene spricht vom „Offenbacher Modell“. Sieben andere Schulen in Hessen haben das Konzept des Unterrichts laut Rosskothen so oder so ähnlich übernommen, in Frankfurt, Hanau, Kriftel und Wetzlar. Außerdem eine Schule in Gelsenkirchen.
In Hamburg gibt es das „Hamburger Modell“, eine eigene Tradition des dialogischen Unterrichts, die bis in die 1990er Jahre zurückreicht.
Forschende haben zu dem Thema veröffentlicht, der frühere Bundespräsident Joachim Gauck würdigte den Unterricht mit einem Besuch.
Jugendliche bei den "Europatagen" an der Schule. Die fast 2000 Schüler und Schülerinnen kommen aus 74 Nationen, der dialogische Unterricht findet ausschließlich in der 11. Klasse statt.
Die Schule
Die Offenbacher Schule ist kein Brennpunkt, auch keine heile Welt; religiösen und sozialen Sprengstoff gibt es genug.
Sie ist das Abbild der Stadt Offenbach: Ein Mischung aus Eingewanderten und Kindern von Eingewanderten, von denen viele mit wenig Bildung und noch weniger Geld in die Stadt gekommen sind.
Bär, die auch Schulseelsorgerin ist, sagt: „Zu mir kommen Jugendliche mit echten Problemen: Fluchtgeschichten, Traumata.“
Das Abitur ist für viele eine große Herausforderung, die Durchfallquote hoch. Dann das Alter, die Disziplin. Einige kommen ständig zu spät; ein Elftklässler, größer als der Lehrer und doppelt so breit, murmelt zehn Minuten nach Unterrichtsbeginn etwas von „mir war schlecht“, bevor er sich vorne einen Tisch auf den Kopf stemmt und damit in die letzte Reihe läuft, um ihn dort in aller Ruhe wieder abzustellen.
Einige haben in ihrer Moschee oder Kirche gelernt, dass ihr Glaube der einzig wahre sei, und wenn nicht dort, dann begegnen ihnen solche Haltungen auf Tiktok oder Youtube.
Zwei Schülerinnen erzählen, wie sie in der 6. Klasse verschiedene Gotteshäuser besucht haben, damals noch in einer anderen Schule. Sie haben keine guten Erinnerungen daran.
Die einen hätten sich in der Synagoge oder in der Kirche respektlos verhalten, andere in der Moschee: Kerzen ausgemacht, gelacht, kleine Respektlosigkeiten. „Die eine Gruppe hat gesagt, ihr habe das bei uns gemacht, jetzt darf ich das bei euch auch machen“, erinnert sich eine, die dabei war.
Heute, fünf Jahre später, ist – zumindest für Außenstehende - von religiösen Rivalitäten nichts zu spüren . „Es ist nicht so, dass man in die Klasse kommt und sich fragt, wer ist Christ und wer Muslim. Das interessiert einfach keinen“, sagt Almina, 19, deren Eltern aus Serbien kommen.
Fatma, 17: „In meinem Freundeskreis ist es nicht so, dass jemand Vorurteile hat. Wir haben uns gegenseitig schon alle aufgeklärt.“ Ob Weihnachten, Zuckerfest oder Ramadan, es gibt auch abseits des dialogischen Unterrichts viele Anlässe, etwas über die Religion der Klassenkameraden zu erfahren.
Die Jugendlichen riechen an der Besamim-Gewürzbüchse, die nach Nelken duftet.
Ein Jüdin zu Besuch
Im Unterricht ist das Thema Judentum dran. Etwa 50 Schüler und Schülerinnen sitzen in einer Aula, fast die Hälfte der Mädchen trägt Kopftuch. Vor ihnen steht die jüdische Referentin Andrea Setzer-Blonski, sie wird etwas über den Sabbat und andere jüdische Traditionen erzählen.
„Welche Gründe gibt es, ein Land zu verlassen?“ Setzer-Blonski, Batikschal, Brille, dunkle Locken, startet mit der Geschichte ihrer Familie. Es ist eine Geschichte des Leidens, der Vertreibung – mit vorläufiger Endstation in Brasilien, wo sie selbst aufgewachsen ist.
Der eine Großvater flüchtet vor Pogromen in Russland, Fußmarsch nach Finnland, dann weiter mit dem Schiff Richtung Südamerika.
Die eine Großmutter stammt aus Polen, wo sie als Jüdin nicht zur Schule gehen oder studieren darf. Die andere Großmutter wächst in Norddeutschland auf; mit ihrer Familie schafft sie es kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs auf eines der letzten Schiffe mit Jüdinnen und Juden an Bord, die noch in Brasilien anlegen dürfen.
Setzer-Blonski legt sich das blaue Tuch um den Kopf, so dass die Haare bedeckt sind, zündet Kerzen an und betet: „Baruch ata Adonaj Elohejnu melech ha’olam asher kidshanu bemitswotaw wetsiwanu lehadlik ner shel schabbat – Gelobet seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns durch sein Gebot geheiligt und uns befohlen hat, die Schabbatkerzen anzuzünden.“ Auf dem Tisch vor ihr sind religiöse Gegenstände ausgebreitet.
Rosskothen, Bär, Demir und Warren laufen damit durch den Raum, so dass alle sie aus der Nähe begutachten können.
Die Jugendlichen riechen vorsichtig an der Besamim-Gewürzbüchse, die nach Nelken duftet; sie blicken auf die Tora, die Schrift, die so heilig ist, dass sie nicht mit dem Finger berührt wird, sondern mit dem Jad, einem silbernen Zeigestab.
Die Dozentin spricht über das Arbeitsverbot am Sabbat und die Herausforderungen, die das mit sich bringt. Die Jugendlichen stellen viele Fragen und erfahren, dass es für fast alles eine Lösung gibt, Dampfgarer mit Sabbatfunktion zum Beispiel oder Aufzüge, bei denen man nicht den Knopf drücken muss. Nur kurz empört sich einer: „Wenn der Sabbat nur einen Tag dauert, dann ist das Wochenende doch viel zu kurz!“
Ein Schüler mit arabischem Namen sagt nach dem Vortrag, er sei beeindruckt von den vielen Parallelen zum Islam: Dass Frauen und Männer in der Synagoge auch getrennt beten, wie in der Moschee. Dass sie sich wie die Muslime deswegen ständig gegen den Vorwurf rechtfertigen müssten, das sei frauenfeindlich. Und dass sie beim Einkaufen auch immer fragten, wo das Fleisch herkommt. „Ich habe gemerkt: Die Juden haben oft dieselben Probleme wie wir“, sagt er.
Im Alltag begegne ihm auch Antisemitismus, etwa in Tiktok-Kurzvideos. „Da wird zum Beispiel gesagt: Die Christen haben Jesus anerkannt, die Muslime haben Jesus anerkannt, nur die Juden nicht. Die Botschaft: Siehe unseren gemeinsamen Feind.“
Der Gaza-Konflikt ist der Elefant im Raum. Die Dozentin sagt nach dem Vortrag, sie sei froh, dass keiner Fragen dazu gestellt habe – es ist spürbar, dass sie das Thema selbst bewegt. Warum kamen eigentlich keine Fragen? Yunus Demir ist sich nicht sicher.
Vielleicht, sagt er, hätten die Jugendlichen gespürt, dass das nicht der richtige Rahmen sei, weil es ja an dem Tag um Religion gehen sollte, nicht um Politik. Für den Fall, dass jemand im Unterricht den Konflikt anspricht, sagen die Lehrer, sei das Team vorbereitet. Das dialogische Prinzip könne auch bei diesem Thema helfen.
Yunus Demir, Ethik-und Mathelehrer, wurde islamisch erzogen. Er ist Ansprechpartner für die Musliminnen und Muslime.
Grenzen der Toleranz
Eines der Module widmet sich dem Thema Toleranz. Die Jugendlichen lernen, dass Toleranz nicht bedeutet, dass sie etwas gut finden müssen. Sie schauen Szenen aus dem Film „Brokeback Mountain“, in dem sich zwei Männer lieben, und schreiben auf Kärtchen, was ihnen dazu einfällt. Manchmal stünden da dann Aussagen wie die: „Schwule gehören erschossen“. Da endet dann die Toleranz.
Die Jugendlichen lernen auch das Konzept der „zivilisierten Verachtung“ des Psychologen und Philosophen Carlo Stenger kennen. Stenger beschreibt eine Haltung, „aus der heraus Menschen Glaubenssätze, Verhaltensweisen und Wertsetzungen verachten dürfen oder gar sollen, wenn sie diese aus substanziellen Gründen für irrational, unmoralisch, inkohärent oder unmenschlich halten.“
Zivilisiert ist die Verachtung laut Stenger unter zwei Bedingungen: sie muss auf Argumenten beruhen und darf sich nur gegen Meinungen und Werte richten, nicht gegen die Menschen, die sie vertreten. Im Beispiel der homophoben Aussage wird das Kärtchen aussortiert, nicht der Schüler oder die Schülerin.
Beim Thema Homosexualität kann der Unterricht zur Gratwanderung werden. Religionen spielen dabei eine schwierige Rolle. Am Ende des Schuljahres sagen mehrere Jugendliche, sie hätten im Unterricht nicht wirklich offen über das Thema gesprochen.
Mancher hätte sich das gewünscht, andere sagen, das war vielleicht besser so. Die Religiösen, egal ob christlich oder muslimisch, seien in der Klasse in der Mehrheit und hätten „tendenziell eine eher intolerantere Meinung“ zu dem Thema, sagt eine Schülerin. Auch das vielleicht ein Vorurteil, aber Fakt ist: In den monotheistischen Religionen wird Homosexualität weitgehend verurteilt.
In der Bibel finden sich Stellen, die als homoerotische Anspielungen verstanden werden können, vor allem aber Sätze wie dieser. Buch Levitikus 20, Vers 13: „Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Gräueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft.“
Drittes Buch Mose 18, 22: „Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel.“ Die Worte atmen den Geist einer Zeit, der zu einer modernen Sexualmoral nicht mehr passt.
Yunus Demir sagt, die islamische Haltung zu dem Thema sei klar; „Homosexualität ist im Islam nicht zulässig.“ Entscheidend aber sei, dass Schülerinnen und Schüler sich im Unterricht mit verschiedenen Positionen auseinander setzen. Die machten sich dann schon ihre eigene Gedanken.
Einmal bekamen die Schüler:innen die Aufgabe, sich im Klassenraum zu verteilen; die einen bildeten einen Kreis, die anderen ein Rechteck. Dann sollten beide Gruppen ihre „Wahrheit“ verteidigen, also die eigene Form. „Die Auflösung war am Ende eine Art Zylinder“, sagt Rosskothen. „Wenn man von oben draufschaut, wirft er einen Kreis als Schatten, von der Seite betrachtet ergibt sich ein Rechteck“.
Demir spricht von einem Prozess der Wahrnehmung, den die Jugendlichen durchmachen.